Wie wird man Miss Germany? (2024)

24. Februar 2024 · Früher war für eine Miss-Wahl vor allem das Aussehen entscheidend. Diese Zeiten sind vorbei. Gesucht werden nun junge Frauen, die gesellschaftlich etwas voranbringen wollen. So wie Julia Schneider aus Offenbach. Sie steht in der Endausscheidung von Miss Germany.

Wo bis vor wenigen Jahren makellose, perfekte Schönheit begutachtet und für am hübschesten befunden wurde, da will Miss Germany Studios, wie die Veranstalteragentur heißt, mittlerweile ganz neue Wege gehen. Sie sucht nicht mehr die Schönste im Land, ein bisschen auch deshalb, weil die Fernsehshow „Germany’s Next Topmodel“ in ihrer ursprünglichen Idee auch nichts anderes propagiert und dabei Staffel für Staffel dem Original durch TV-Präsenz den Rang abgelaufen hatte. Miss Germany hat sich stattdessen laut Eigenbeschreibung zu einem „Female Lead Award“ gewandelt. Gesucht werden starke Frauen, die etwas darstellen und für eine Idee und ein Vorhaben einstehen.

Julia Schneider reizt genau diese Veränderung. „Bei Miss Germany in der klassischen Variante hätte ich direkt abgewunken“, sagt die 32 Jahre alte Frau aus Seligenstadt. Schneider würde grundsätzlich den gut trainierten Körper mitbringen und eine gute Figur abgeben. Sie turnte lange auf höherem Hobbysportlerinnenniveau und ist als Vorsitzende der Deutschen Turnjugend engagiert als Sportfunktionärin. Aber außer im Schnitt 20 Jahre alte Konkurrentinnen mit makellosem Antlitz und entsprechenden Körperformen hätte die Gymnasiallehrerin vermutlich noch viel mehr Inhaltliches vom Wunsch nach einem Sieg abgehalten. „Ich will das nicht verurteilen, wenn andere Frauen da früher mitmachen wollten, akzeptiere ich das“, sagt sie. „Aber ich hätte mich der Fleischbeschau sicher nie gestellt.“

Stattdessen ist sie begeistert vom neuen Modus, der sie eine Miss mit Mission sein lasse. „Dieser Wettbewerb hat mir schon jetzt so viel gegeben, mich persönlich weitergebracht, mir Türen geöffnet, die ich für meine Anliegen nutzen kann“, sagt Julia Schneider. „Selbst wenn es am Ende mit dem Titel nicht klappen sollte, habe ich enorm profitiert.“

Sie erzählt von den Camps, bei denen beispielsweise die Top 40 einer Vorauswahl eine Woche lang in Berlin geschult wurden im Auftreten oder auch in rhetorischen Fragen. Sie schwärmt vom Austausch mit den anderen Kandidatinnen. Sie habe sogar Freundinnen gefunden, mit denen sie sich schon jetzt nicht nur wegen der Gala im Europa-Park Rust beratschlage. „Wir alle sind miteinander bereits gewachsen und haben unglaublich an Persönlichkeit gewonnen“, sagt sie.

In jedem Fall ist Schneider schon jetzt eine junge Frau mit bemerkenswertem Auftreten. Das ist auch zu spüren, wenn sie vor ihrer sechsten Klasse im Leibniz-Gymnasium in Offenbach steht. Eine Doppelstunde Mathe steht auf dem Stundenplan. Mathe ist gewiss nicht das Lieblingsfach von Elf- bis Zwölfjährigen, zumal die Klasse laut ihrer Lehrerin als eine gilt, „bei der nicht alle Kollegen gerne Vertretungsstunden übernehmen“. Schneider, die teilweise so schnell auf ihre Klasse einredet wie ein Wasserfall, schafft es mit ihrer Resolutheit, die Schüler bei der Stange zu halten. „Sara, gibt es ein Problem?“, spricht sie ein Mädchen in der ersten Reihe an, das gerade mit der Nachbarin tuschelt. „Ich habe sie nur um Hilfe bei der Aufgabe gebeten“, sagt das Mädchen entschuldigend. „Dann frag bitte mich, ich werde dafür bezahlt, dass ich euch Mathe erkläre.“ Die Art der Ansprache erreicht die Jugendlichen. Die Schülerin reagiert nicht verärgert, sondern fühlt sich ernst genommen, ermuntert, tatsächlich ihre Lehrerin zu fragen. „Viele Schüler sagen mir, dass sie es so toll finden, dass sie bei mir immer fragen dürfen. Da wundere ich mich dann ein wenig, weil das ja der Sinn der Sache ist, scheinbar aber nicht bei allen Kollegen im Stress des Schulalltags selbstverständlich.“

Julia Schneider setzt zudem ohne jede Scheu ihr Tablet an der modernen digitalen Tafel ein, auch, weil es den Vorteil mit sich bringe, dass sie beim Tafelanschrieb nicht mehr der Klasse den Rücken zuwenden müsse. „So habe ich die Kameraden immer im Blick“, sagt sie und gesteht ein, dass auch sie gelegentlich an Aufmerksamkeitsgrenzen stoße, wenn es auf die Mittagszeit zugehe. „Dann schicke ich die Bande für zehn Minuten auf den Schulhof, sie sollen sich eine Runde bewegen, und dann ist wieder was mit ihnen anzufangen“, sagt sie.

Die Schüler danken es ihrer „Lieblingslehrerin“, die ihre dynamische Unterrichtsführung gerne mal unterstreicht, indem sie sich mit einem Fuß auf ihrem Stuhl abstützt, um mit Körperspannung zur Klasse zu reden. „Frau Schneider ist die Beste, die ich je hatte“, sagt Sarah. „Sie ist immer entspannt, sie erklärt geduldig, auch wenn man dreimal fragt.“ Samir findet derweil besonders gut, dass man sich auch mal bewegen kann in der Stunde, beispielsweise auch bei den Communityfragen, die Julia Schneider gerne einstreut. „Wer ist heute nervös, weil ein Fernsehteam im Unterricht dabei ist?“, sagt sie, die Schüler sammeln sich in den Klassenecken jeweils bei einem Smiley mit Daumen rauf oder runter oder einem Symbol für Unentschlossenheit. „Auch weil sie so toll ist, drücken wir ihr die Daumen für Miss Germany“, sagt Christopher, der nach einer Runde Googeln eine vage Vorstellung davon hat, um was es dabei geht. „Ich finde toll, dass meine Lehrerin bei so etwas mitmacht.“

Schneider selbst stand schon kurz davor, den Lehrerberuf aufzugeben. Sie ist nämlich mit vielem im Bildungssystem nicht einverstanden. Das Curriculum enge so stark ein, dass sie nur ansatzweise ihre Vorstellungen von bewegtem Unterrichten einbringen kann. „Wir alle wissen, dass das Ganze so an die Wand gefahren wird und nicht mehr funktioniert, aber es ändert sich nichts“, sagt sie. Dennoch habe sie entschieden, dass sie im System drinbleiben und weiter für Reformen kämpfen will. Den Status als Miss Germany würde sie, so sie am 24. Februar gewinnen sollte, deshalb auch sehr gerne dafür nutzen, ihre Anliegen zu einer dringend nötigen Bildungsreform mit im wahrsten Sinne des Wortes deutlich mehr Bewegungsspielraum noch prominenter zu vertreten. Als Vorsitzende der Deutschen Turnjugend sitzt sie bereits in Kommissionen mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) oder auch Familienministerin Lisa Paus (Die Grünen) und kämpft dort beispielsweise für mehr Sportunterricht und Bewegung im Schulalltag. Sie spürt aber, dass noch mehr Lobbyarbeit möglich ist, die sie im Fall des Sieges ein Jahr mit Unterstützung der Agentur betreiben könnte. Nicht zuletzt wäre der Sieg bei Miss Germany auch mit einer Prämie in Höhe von 25.000 Euro verbunden, die sie nach eigenem Gutdünken für ein Projekt einsetzen dürfte.

So wie Schneider für ihre Bildungsideale, so kämpfen aber auch neun Konkurrentinnen für ähnlich hehre Anliegen wie Gleichstellung, Organspenden, Chancen für ghanaische Mädchen, ein moderneres Verständnis von Sexualerziehung oder bessere Pflegepolitik. Diese Auswahl entspricht dem Ansatz von Max Klemmer, der Miss Germany auf den Kopf gestellt hat, seit er vor vier Jahren die Anteile seines Vaters übernommen hat und in Eigenregie die Revolution durchführt. Klemmer ist der Enkel von Unternehmensgründer Horst Klemmer, einer schillernden Gestalt der deutschen Unterhaltungsbranche der Wirtschaftswunderjahre, der als Manager von Komiker Heinz Erhardt oder auch Blaue-Bock-Legende Heinz Schenk begann, mit der Idee der Miss-Germany-Wahlen groß rauskam und diese später mit Sohn Ralph im Familiengespann zur Blüte führte.

Enkel Max, mittlerweile 27 Jahre alt, bekam dann vor einem halben Jahrzehnt die Anteile vom Opa übertragen, war sich aber schnell uneins mit dem Vater über die Neuausrichtung der Events. Ihn habe es schon fast angewidert, wenn „in Einkaufspassagen, am besten noch direkt vor dem Schaufenster des Metzgers, im Bikini-Contest die Kandidatinnen über den Laufsteg gewackelt sind“. Er will nun, nachdem er dem Vater die Anteile abgekauft hat, mit einer hochwertigen Produktion eines einzigen Galaabends die Marke so gut pflegen, dass sie eine Wertigkeit erhält für seine Botschaften, die die Frauen auszeichnen sollen: Professionalität, Inspirationsfähigkeit und Entwicklungspotential. Im Vorjahr gewann Kira Geiss, eine 21 Jahre alte angehende Religions- und Gemeindepädagogin, die sich für soziale Nachhaltigkeit und die Förderung von Jugendarbeit und den richtigen Umgang mit den sozialen Medien einsetzt. Horst Klemmer überzeugt das mittlerweile so sehr, dass sein Enkel ihn mittlerweile als größten Unterstützer bezeichnet, „weil er mir vertraut, dass ich das Familienerbe in die Zukunft führen will“.

In der Jury sitzen ungefähr zu gleichen Teilen Frauen und Männer. Deren beruflicher Hintergrund sind eher die Human-Resources-Abteilungen von Unternehmen wie SAP oder Linkedin, während frühere Jurymitglieder eher althergebrachte Beauty-Entscheider oder Chefs von Modelagenturen waren. „Ich will Werte platzieren und uns als Partner so positionieren, dass Marken mit uns zusammenarbeiten wollen“, sagt Klemmer, der betont, dass er es sich gewiss hätte leichter machen können, wenn er sich ins gemachte Nest gesetzt hätte. Auch das alte Geschäftsmodell habe noch immer funktioniert. Sein Vater, der seit der Trennung eine neue Modelagentur mit dem klassischen Ansatz betreibt, organisierte bundesweit bis zu 300 Wahlen im Jahr, gefühlt von der Miss Dorfclub über die Miss Hessen bis hin eben zur Miss Germany. Der Eintrittskartenverkauf war dabei noch ein wichtiges wirtschaftliches Standbein. „Das hätte ich problemlos noch viele Jahre so weiterführen können mit ordentlichen Gewinnen“, sagt Max Klemmer. „Aber ich war überzeugt, dass das keine nachhaltige Vision für eine zeitgemäße Zukunft gewesen wäre, und es entsprach auch nicht meinen Werten.“

Selbstverständlich habe er auch erwogen, den Titel komplett neu zu erfinden. „Aber ich fand es eine besondere Herausforderung, die klassische historische Marke eben so umzuwandeln, dass sie glaubwürdig für meine Anliegen steht.“ Er entwarf dafür einen Plan: Nach drei Jahren sollte sich sein Unternehmen selbst vergewissert haben, dass es sich mit dem neuen Ansatz vollkommen identifiziert. Nach fünf Jahren sollte die Glaubwürdigkeit nach außen erreicht werden, nach sieben schließlich jeder um die gelungene Neuausrichtung wissen. „Wir sind nach nun fünf Jahren auf einem sehr guten Weg“, sagt Klemmer.

Julia Schneider bestätigt das. „Ich war anfangs schon skeptisch und habe gesucht, wo der Haken ist. Aber Max Klemmer geht das wirklich bemerkenswert visionär an. Er glaubt an seine Sache“, sagt sie. „Für mich war es im Grunde die größte Herausforderung, dass ich in dem Wettbewerb als Privatperson Julia Schneider mit einer Mission auftreten muss und nicht gewissermaßen in der Maske der Sportfunktionärin, die mich auch ein wenig schützt“, sagt sie. „Mittlerweile weiß ich, dass das eine mit dem anderen untrennbar verbunden ist.“

Als Sportlerin spüre sie nun eine gesunde Nervosität vor dem Wettkampf, der sportliche Ehrgeiz sei geweckt. Und die Verwandlung der Julia Schneider in die mögliche Miss Germany schreitet voran. Bei der Gala will sie, nachdem sie in den Runden zuvor stets im Hosenanzug die Bühne betreten hat, nun erstmals ein Abendkleid tragen. Sie sieht das nicht als Anbiederung an oder gar als Reminiszenz an die Tradition des Schönheitswettbewerbs. Sie sagt stattdessen ganz lapidar: „Ich trage in der Schule schließlich auch etwas anderes, als wenn ich im Bundestag bei einer Sitzung zu Gast bin.“ Es geht ihr darum, dass Türen aufgehen. Und wenn dazu ein Kleid als Schlüssel dient, dann ist ihr das recht.

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